Leseprobe, Kapitel 1: Der Einzug

Der Einzug

Egal, ob es sich um ein Urlaubshotel, um die neuen vier Wände eines Freundes oder um eine Berghütte für einen Wochenendtrip handelt – wenn man ein Haus zum ersten Mal betritt, will man es zunächst komplett besichtigen. Besonders wenn es sich bei dem Haus um ein Hospiz handelt und man selbst in dieses Haus einzieht. Und vor allem wenn man Angst hat vor dem Haus, und sich sein neues Heim düster und dunkel vorstellt. 

Das Taxi, das Minnie abgeholt hatte, war am Morgen des 1. November vor Haus Holle vorgefahren. Ein gut aussehender, spanischer Fahrer, kaum älter als ihr jüngster Enkel, hatte vor der Universitätsklinik Eppendorf auf die alte Dame gewartet.

Minnies Bettnachbarin winkte ihr zum Abschied zu und rief: „Ich werde Sie besuchen, sobald ich hier raus bin!“

Die Taxifahrt ins Zentrum dauerte nur zehn Minuten. Der Fahrer bog rechts ins Vergnügungsviertel ein.

„Wilde Lage“, meinte der junge Spanier, drückte ein paar Knöpfe am Autoradio, und reduzierte die lebenslustigen Merengue-Melodien um einige Dezibel. „Wohnen Sie hier?“

„Demnächst ja“, entgegnete Minnie.

Prüfend warf der Taxifahrer einen Blick auf den Adresszettel, der ihm an der Krankenhauspforte in die Hand gedrückt worden war. „Haus Holle? Kenne ich gar nicht … Ein Heim für Senioren?“

„Nicht nur“, antwortete Minnie. „Aber erzählen Sie mir lieber ein bisschen von diesem verrückten Viertel. Findet hier gerade ein Jahrmarkt statt?“

„Sogar mehrmals im Jahr“, entgegnete der junge Mann.

Als Nächstes folgte eine Rechtskurve um den City-Park, und plötzlich war Minnie mitten im Hamburger Bling-Bling-Land St. Pauli, auf einer langen, geraden Straße, die rechts und links von billigen Spielkasinos, einem Panoptikum, Imbissbuden, Sexshops, Erotikläden, Strip-Lokalen und der S-Bahn-Haltestelle „Reeperbahn“ flankiert wurde..

„Huch“, machte sie staunend und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Da staunen Sie, was?“, sagte der Spanier und deutete aus dem linken Fenster. „Dort gibt es jede Menge Restaurants – und ein gutes Tanzlokal.“  Er zwinkerte ihr im Rückspiegel zu.

„Mist“, rief er plötzlich, „ich habe die Einfahrt verpasst. Wir müssen einen U-Turn machen.“

Minnie freute sich über die Verzögerung. Auf der Reeperbahn gab es so viel zu sehen. Links die berühmte Davidwache, daneben spazierten viele leichte Mädchen mit dicken Jacken und dünnen Schuhen umher.

„Nutten am helllichten Tag“, sagte der Taxifahrer und runzelte die Stirn. „Die stellen sich in Madrid nicht so zur Schau!“

Minnie Blick schaute weiter aus dem Fenster. Rechts folgten ein McDonald’s-Restaurant, mehrere grelle Boutiquen und ein Waffengeschäft, in dem Elektroschocker und Schlagstöcke verkauft wurden.

„Dort kriegen Sie richtige Wummen“, flüsterte der Spanier verschwörerisch. Er bog scharf nach links ab und kommentierte seinen U-Turn: „So, jetzt sind wir auf der Zielgeraden. Sehen Sie nur. Da vorne ist Haus Holle ja schon!“

Sie steuerten auf ein rosafarbenes, dreigeschossiges Jugendstilhaus vor einer Ponywiese zu – jenseits und doch inmitten des Rummels.

„Sieht ruhig aus“, kommentierte der Spanier. Interessiert musterte er Haus Holle und verriet Minnie, dass ihm das Hospiz in den Jahren seiner Tätigkeit als Kutscher noch nie aufgefallen war. „Was geht dort eigentlich ab?“

Minnie räusperte sich dezent und fragte: „Macht wie viel?“

Der Taxifahrer kassierte achtzehn Euro, und Minnie bat ihn um die Quittung.

„Wohl für die Krankenkasse, was?“

Sie nickte.

„Hören Sie, Lady“, sagte der Spanier. Erstmals blickte er sie direkt an, und die alte Dame sah in glühend schwarze Augen. „Mein Name ist Daniel – und das hier ist meine Karte. Falls ich Sie nachher wieder abholen soll …“

„Das ist sehr freundlich“, erwiderte Minnie. „Aber nicht nötig. Ich werde erst mal hierbleiben.“

„Dann vielleicht, wenn ich Sie durch St. Pauli kutschieren soll“, bot Daniel an.

Lächelnd nahm sie seine Visitenkarte und verstaute sie in ihre Tasche.

„Das letzte Stück müssen Sie leider selbst zurücklegen“, erklärte der Spanier mit einem kritischen Blick auf einen Golf, der im Halteverbot vor einem Poller parkte und den Weg zum Haus versperrte. „Sonst hätte ich Sie gerne bis zur Rampe vorgefahren! Aber Sie haben ja kaum Gepäck.“

Die alte Dame stieg aus, der Spanier setzte zurück – und schon war Minnie allein.

Allein mit Haus Holle.

Jetzt fehlten nur noch sieben Meter.

Langsam setzte Minnie einen Fuß vor den anderen.

Sechs Meter.

Vor dem Haus stand ein Rollstuhl mit einem Buddha, der sie freundlich begrüßte.

Was sie wohl erwarten würde?

Fünf – vier – drei – zwei … Noch ein Schritt, und es würde vollbracht sein.

Minnie blickte hoch.

Haus Holle sah freundlich aus.

Das war es also – rosafarben angemalt und kein bisschen düster.

 

Im Krankenhaus hatten ihr Dr. Vier, Minnies langjähriger Hausarzt, und der Psychologe von Haus Holle Dr. Andreas Albers erstmals von dem Sterbehaus am Rande der Amüsiermeile erzählt. Das war kurz nach der verheerenden Diagnose gewesen, dass sie Vaginalkrebs im Endstadium hatte. 

„Zu uns kommen Menschen wie Sie, Minnie“, hatte Dr. Albers gesagt. „Menschen, deren Lebenserwartung überschaubar ist. Menschen, die wir als Gäste aufnehmen.“

„Es ist das Richtige für Sie, Minnie“, hatte ihr Hausarzt hinzugefügt.

Dann hatte alle drei geschwiegen. Bis Minnie die Stille brach.

„Warum?“, hatte Minnie gefragt.

Ohne einen Blick in die Patientenakte zu werfen, hatte Dr. Albers zu einer Erklärung ausholen wollen, aber Dr. Vier war ihm zuvorgekommen.

„Sie leiden an einem sogenannten Urothel-Karzinom, das die Bedrohung eines Vaginalausbruchs in sich birgt.“ Die Worte schwebten im Raum. Und es folgten sogleich neue, diesmal von Dr. Albers.

„Jetzt fragen Sie sich bestimmt, was ein Urothel-Karzinom ist, nicht wahr?“

Minnie hatte genickt.

„Ein Urothel wird auch Übergangsepithel genannt. Es ist ein Sammelbegriff für Ihr Nierenbecken, Ihren Harnleiter, Ihre Harnblase und obere Harnröhre.“

„Habe ich Krebs?“, fragte Minnie.

„Ja“, antwortete Dr. Albers.

„Aber er ist heilbar, oder?“

„Leider nicht“, sagte der Psychologe, und sah der alten Dame fest in die Augen. „Doch das ist leider noch nicht alles. Ihr Tumor ist nicht operabel, weil er fest verwachsen mit Ihrem Deckgewebe verwachsen ist. Außerdem ist er bereits sehr groß geworden – und hat Methastasen gebildet, zum Beispiel in Ihrer Lunge.“

„Blute ich deshalb manchmal unten?“, wollte Minnie wissen.

„Ja“, bestätigte Dr. Albers. „Ihr Tumor kann jederzeit aufbrechen, und Ihre Vagina zerstören. Es besteht die Gefahr, dass Sie einen Blutsturz erleiden.“

„Wie schlimm steht es um mich?“, fragte Minnie Dr. Vier.

„Uns sind die Hände gebunden. Sie können diesen Krebs nicht besiegen“, gab Dr. Albers mit klarer, warmer Stimme zurück.

„Und was bedeutet das konkret?“ Minnies Stimme klang seltsam fremd.

„Sie werden bald sterben.“

Die hässlichen Worte waren durch den Raum gehallt. Minnies Bettnachbarin hatte nur kurz aufgesehen, und dann mit der Zeitung geraschelt.

„Wie bald ist bald?“, hakte Minnie nach.

„Mit Prognosen bin ich vorsichtig“, erwiderte Dr. Albers. „Wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie noch drei Wochen leben, würden Sie die Tage zählen. Vielleicht leben Sie viel länger. Eine Vorhersage kann sich fatal auswirken. Ich möchte nicht, dass Sie sich aufgeben.“

„Wird es unten wieder so schmerzen?“

Dr. Albers lächelte. „Nein – das kann ich Ihnen versprechen. Inzwischen ist die Palliativmedizin, darunter ist eine spezielle Form der ärztlichen Heilkunst zu verstehen, sehr weit fortgeschritten. Ich arbeite in einem Haus, in dem unheilbar kranke Menschen, deren Lebenserwartung begrenzt ist, optimal behandelt werden. Inklusive ganz viel Zuwendung und Liebe.“

„Was werden Sie mit mir machen?“ Die Frage brannte auf Minnies Lippen.

Daraufhin holte Dr. Albers zu einer längeren Erklärung aus, die ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen war, weil er sie Woche für Woche wiederholen musste. Er sagte sie jungen und alten Menschen, Armen und Reichen, Frauen und Männern, Maurern und Managern, Skins und Schwulen. Dabei war er jedes Mal einfühlsam. Bislang hatte jeder der Menschen, denen er die Diagnose Allgemeinzustand sterblich überbringen musste, seine Worte aufgesogen und an seinen Lippen gehangen.

 „Haus Holle ist ein Hamburger Hospiz mit zwölf Zimmern – benannt nach der Millionärin Helga Holle. Diese vermögende Dame hat 1992 eine Stiftung ins Leben gerufen. Zuvor war ihre Tochter Bettina an Aids gestorben. Nach dieser Erfahrung wollte Helga Holle einen Ort gründen, an dem Todkranke ihre letzten Lebenswochen ohne Schmerzen und ohne Sorgen verbringen können. Doch dafür musste sie mächtig kämpfen – vor allem gegen die Bewohner des Herrenhauses am Anfang des Weges: Dort lebt die mächtige Familie Zacharias, der eine große nationale Tageszeitung gehört. Der Zacharias-Clan hat in den Neunziger Jahren mit allen Mitteln gegen ein Hospiz in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gekämpft – weil er nicht mit dem Tod konfrontiert werden möchte. Doch Helga Holle setzte sich gerichtlich durch. Seither leben die Gäste in ihrem Hospiz wie in einem sehr guten Hotel und gepflegt von Ärzten, die sich auf die Anwendung der besten schmerzlindernden Medikamente verstehen – Mittel wie Morphium, die es bei uns in verschiedenen Verabreichungsformen gibt. Zum Beispiel als Lutscher, Spritzen, Tabletten, Pflaster oder Pumpen.“

„Heißt das, ich kann in Haus Holle geheilt werden?“

„Leider nicht“, antwortete der Psychologe. „Aber sobald Sie bei uns versorgt werden, müssen und wollen Sie nicht mehr im Bett liegen. In Haus Holle werden Ihnen die Ärzte mit raffinierten Medikamenten helfen. Schon nach der ersten Pille können Sie Ihr normales Leben schlagartig wieder aufnehmen.“

„Kann ich anschließend wieder nach Hause?“

„Das muss ich leider verneinen“, erklärte Dr. Albers. „Die Gefahr, dass Sie zu Hause einen Blutsturz aus der Vagina erleiden können wir nicht ausschließen.“

In diesem Moment verstand Minnie die Botschaft. Sie würde nie mehr heimkehren. „Aber meine Wohnung …“, flüsterte sie benommen.

„Niemand wird Sie daran hindern, nach Hause zurückzukehren“, sagte Dr. Albers freundlich. „Aber ich empfehle Ihnen, es nicht zu tun. Momentan ist die Warteliste kurz für einen Platz in Haus Holle. Für Sie ist das ein Glück im Unglück.“

„Welche Warteliste?“, fragte Minnie.

Der Psychologe antwortete mit einer Gegenfrage. „Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Menschen jährlich in Deutschland sterben?“

Minnie überlegte. Sie wusste ja nicht einmal die Bevölkerungszahl. Doch Dr. Albers klärte sie darüber auf, dass von rund 800.000 Sterbenden pro Jahr nur 26.000 einen Hospizplatz erhielten. Der Grund, so der Psychologe, sei, dass ein Platz in einem Hospiz fast siebentausend Euro im Monat koste: „Das ist doppelt so viel wie die monatlichen Kosten in einem Pflegeheim. Außerdem gibt es nicht genügend Hospize für alle Todkranken. In ganz Baden-Württemberg etwa gibt es kein einziges Hospiz für Kinder! Deshalb nimmt Haus Holle nur dann Todkranke auf, wenn gerade ein Platz frei geworden ist oder sich abzeichnet, dass bald ein Zimmer bei uns frei wird.“

Minnie schluckte. „7000 Euro im Monat? Das kann ich mir niemals leisten. Und warum … Warum bekomme ausgerechnet ich einen Platz?“

„Bei den Wartelisten achten wir darauf“, antwortete Dr. Albers, „dass die Gesamtsituation im Hospiz ausgewogen bleibt. Am besten lässt sich das an einem einfachen Beispiel erklären. Wenn sich zwei Menschen mit begrenzter Lebenserwartung, die nach dem deutschen Sozialgesetz beide einen Anspruch auf einen Hospizplatz haben, bei uns bewerben, wir aber nur ein Zimmer frei haben, schauen wir, wer von ihnen das Zimmer am dringendsten braucht. Ist das bei zwei Patienten der Fall, wählen wir denjenigen aus, dem es noch besser geht – oder umgekehrt. Dadurch entsteht ein Klima aus sogenannten mobilen und eher bettlägerigen Gästen. Außerdem werden Aids-Patienten schneller aufgenommen als Krebskranke oder Menschen mit anderen, seltenen Leiden. Es war ja ursprüngliche Intention von Helga Holle, Aidskranken vorrangig zu helfen.“

Fragend sah Minnie ihn an.

„Helga Holle hat das Hospiz 1993 gegründet. Damals starben noch viele Menschen an Aids. Drei Jahre später wurden endlich wirksame Medikamente gegen diese Krankheit gefunden. Diese Medikamente schenkten todkranken HIV-Patienten neue Hoffnung. Heute haben die meisten HIV-Patienten eine normale Lebenserwartung. Deshalb nehmen wir inzwischen hauptsächlich Krebskranke auf – Menschen wie Sie.“ 

Er legte seine Hand auf Minnies. „Nun zu den Kosten … Seit dem 23. Juli 2009 sind unheilbar Kranke bundesweit von der Eigenbeteiligung befreit. Das Hospiz finanziert sich durch Zahlungen der Kranken- und Pflegekassen sowie durch Spenden. Das Gros der Gäste lebt zwanzig Tage bei uns.“

„Heißt das, ich lebe nur noch vier Wochen?“, fragte Minnie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Das ist nicht auszuschließen“, erwiderte Dr. Albers aufrichtig. „Im Durchschnitt ist das so. Aber manche Gäste bleiben auch ein Jahr bei uns.“

„Wer zahlt dann?“

„Wir nehmen jeden Menschen auf – egal, ob er obdachlos ist oder Millionen auf dem Konto hat“, erklärte der Psychologe. „Und wir veranstalten viele karitative Aktionen, damit Geld in unsere Kasse kommt. Rund dreißig Prozent unserer Ausgaben werden nicht von den Kranken- und den Pflegekassen übernommen.“

„Die alte Dame sah Dr. Albers kläglich an. „Das sind so viele Informationen. Warum ist ein Hospizplatz so unglaublich teuer?“

„Weil sich bis zu zwei Pfleger um einen Gast kümmern. Außerdem müssen wir eine Hauswirtschafterin, einen Psychologen und einen Koch bezahlen. Gleichzeitig sind die hohen Kosten aber auch vorteilhaft für unsere Gäste. Erstens wird das Leben unserer Gäste um bis zu drei Monate verlängert. Zweitens können unsere Gäste wieder leben wie vorher, weil sie absolut schmerzfrei sind. Und drittens schaffen wir ein sorgenfreies Umfeld. Wir bieten eine Lebensqualität, die viel höher ist als die in einer Klinik oder zu Hause.“

Fragend blickte Minnie den Psychologen an. „Was bedeutet das konkret, Herr Doktor?“

„Bei uns ist fast alles erlaubt! Ein Beispiel dafür ist die Zimmer-Einrichtung. Jeder Gast darf mitbringen, was er möchte – vom Sofa bis zum Bücherregal. Nur das Hospizbett muss wegen der medizinischen Vorteile benutzt werden. Außerdem wird täglich Wunschkost gekocht. In Haus Holle gibt es weder feste Besuchszeiten noch sonstige Anwesenheitspflichten. Sogar Rauchen und Alkohol sind erlaubt. Kleinere Haustiere können Sie auch mitbringen – zum Beispiel einen Wellensittich. Doch ich warne Sie vor: In Haus Holle leben eine Katze und ein Kater, die unsere Gäste manchmal besuchen. Sie könnten Ihren Vogel vernaschen.“

„Und wenn ich keine Katzen mag?“

„In diesem Fall schließen Sie einfach Ihre Zimmertür“, sagte Dr. Albers lächelnd. „Aber unserem Kater Nepomuk kann fast kein Gast widerstehen. Er ist ein kleiner Schmeichler mit einem großen Herzen. Wäre er ein Mensch, würde er jedem den Hof machen.“

„Und wo ist der Haken?“

„Es gibt keinen“, sagte Dr. Albers mit fester Stimme.

Die alte Dame schaute ihn an. „Wirklich nicht?“

„Wirklich nicht. Bei uns trägt niemand weiße Kittel. In Haus Holle leben die Menschen wie in einer großen, glücklichen Familie. Ihre Angehörigen und Freunde können Sie jederzeit besuchen. Möchte einer Ihrer Angehörigen bei Ihnen bleiben, dann stellen wir umgehend ein zweites Bett ins Zimmer.“

„Meine Tochter Ute lebt in Paris“, antwortete Minnie. „Sie weiß nichts von meiner Krankheit. Das soll auch so bleiben. Sie würde sich nur unnötig sorgen. Vielleicht werde ich ja wieder gesund.“

„Das ist nie auszuschließen“, stimmte Dr. Albers ihr zu. „Aber Sie haben noch eine zweite Tochter, stimmt’s?“

„Ja. Aber die darf auch nichts wissen. Clara ist mit einem Engländer verheiratet. Sie lebt in Birmingham und hat acht Kinder!“

Dr. Albers lächelte. „Sie sind also eine achtfache Großmutter?“

„Zwölffache sogar. Ute hat vier Kinder. Und ich habe schon sieben Urenkel.“

„Das freut mich für Sie.“ In Dr. Albers’ Augen spiegelte sich ehrliche Anteilnahme.

Minnies Hausarzt sah auf die Uhr. „Und? Wie haben Sie sich entschieden?“

„Hab ich denn eine Wahl?“

„Natürlich“, beruhigte sie Dr. Albers. „Wir entlassen Sie jetzt aus der Klinik. Hier können die Ärzte nichts mehr für Sie tun. Möchten Sie gerne nach Hause fahren oder lieber zu uns kommen?“

„Aus ärztlicher Sicht empfehle ich Ihnen dringend, den Hospizplatz anzunehmen“, sagte Dr. Vier. „Wenn Sie alleine zu Hause bleiben und nachts einen Blutsturz erleiden, kann Ihnen kein Anwesender helfen.“

„Heißt das, im Hospiz wird mir geholfen, wenn so etwas passiert?“

„Natürlich sind wir stets bei Ihnen! Aber wir leiten keine lebensrettenden Maßnahmen ein, wie es im Krankenhaus der Fall wäre. Bei uns würden Sie sorglos und schmerzfrei leben, bis Ihr Tod irgendwann eintritt. Jedoch bekommen Sie keine Bluttransfusionen mehr, die Ihr Leben verlängern. Sie werden nicht mehr geröntgt, es gibt keine Spritzen mehr, und wir rufen keinen Notarzt. Sie werden konstant Blut verlieren“, erklärte Dr. Albers ehrlich.

„Bin ich deshalb so unglaublich weiß? Heißt das, ich würde dann sterben?“

„Ja und nein“, sagte Dr. Albers. „Wenn Sie im Falle eines Blutsturzes unbedingt in eine Klinik gebracht werden wollen und noch eine Bluttransfusion erhalten möchten, erfüllen wir diesen Wunsch natürlich und rufen einen Krankenwagen.“

„Das klingt sehr gut“, erwiderte Minnie. „Ich glaube fast, dass ich aufatmen kann – oder?“

„Das können Sie“, versprach der Psychologe. „Sie können uns vertrauen und absolut sorglos leben. Wir unterstützen Sie dabei, nicht mehr an Morgen und Übermorgen zu denken. Was zählt, ist der Augenblick. Jeder Moment soll so schön sein wie möglich. Sobald Sie schmerzfrei sind, können Sie wieder Ausflüge machen. Und essen, wonach Ihr Herz verlangt. Außerdem werden Sie bei uns viele sympathische Menschen kennenlernen. In Haus Holle leben immer zwölf Gäste.“

„Und warum habe ich noch nie etwas von dieser Einrichtung gehört?“, fragte Minnie fassungslos.

„Weil die Menschen den Tod fürchten. Sie möchten ihn ausklammern. Außerdem verdrängen sie, dass er zum Leben gehört wie die Geburt. Unter Schmerzen zu sterben – das gab es nur früher, Minnie.“

„Ich habe große Angst vor Schmerzen“, gestand die alte Dame.

„Mit Recht. Aber mittlerweile können wir Schmerzen zu 99,9 Prozent lindern. Unsere Medikamente werden derart individuell angepasst, dass jede Qual auf ein erträgliches Maß reduziert wird. Sie werden sie komplett vergessen und trotzdem bei klarem Verstand sein. Meistens sterben unsere Gäste, ohne dass sie es bemerken.“

„Weil Sie Sterbehilfe leisten?“

„Das würden wir niemals tun“, erwiderte Dr. Albers. „Für uns ist das Sterben ein natürlicher Prozess. Wir lindern Schmerzen – aber wir töten keine Menschen.“

„Das heißt, Sie bringen keinen um die Ecke?“

Dr. Albers’ Augen fixierten die alte Dame eindringlich. „Genau. Keiner der hundert bis hundertzwanzig Menschen, die jährlich bei uns sterben, wurde von uns beim Suizid unterstützt oder umgebracht.“

„Will sich keiner töten vor Angst?“

„Manche Gäste kommen mit dem Vorsatz“, war der Psychologe ehrlich. „Aber am Ende lagen immer noch alle Tabletten im Nachtschrank. Unsere Gäste haben verstanden, dass sie nicht zu diesem Ausweg greifen müssen. Weil es ihnen gut geht.“

Minnie atmete tief ein. „Dann nehme ich das Zimmer. Vorausgesetzt, dass es hell und freundlich ist.“

„Das verspreche ich Ihnen.“

„Und ich möchte meinen Fernsehsessel mitbringen – und meine Vorhänge!“

„Wir lassen beides abholen.“

„Mögen Sie zum Du übergehen?“

„Natürlich“, hatte Dr. Albers geantwortet. „Ich heiße Andreas.“

Er hatte Minnie die Hand gereicht.

„Warum erzählst du nicht mehr Menschen von dieser Einrichtung? Warum wird nicht mehr darüber geredet?“ Gespannt hatte Minnie auf Andreas’ Antwort gewartet.

Dr. Albers hatte gelächelt. „Eins musst du verstehen, Minnie. Die Menschen da draußen, all die vermeintlich Gesunden, möchten den Gedanken an den Tod verdrängen. Bis sie sich mit ihm beschäftigen müssen.“

 

Mike Powelz

@mikepowelzJournalist