Prolog
Gustav Sonnleitner starb am 31. Oktober.
Obwohl er nur 46 Jahre alt geworden war, atmeten alle auf, die ihn in den letzten sieben Tagen seines kurzen Lebens gefüttert, gewindelt und sein Erbrochenes weggewischt hatten.
Katharina Schulz atmete auf, als sie die Fenster in Sonnleitners Sterbezimmer öffnete, wo der gelbe eingefallene Leichnam seit zwölf Stunden lag.
Sie atmete auf, weil sie sich für Gustav freute. Endlich musste der Kranke nicht mehr leiden.
Die Hauswirtschafterin bekreuzigte sich nicht. Sie wurde auch nicht andächtig. Stattdessen zog sie sich einen Stuhl ans Bett. Katharina setzte sich und betrachtete das Gesicht des Toten. Zu seinen Lebzeiten hatte sie Sonnleitner immer nur kurz gesehen, wenn sie kontrolliert hatte, ob die Putzfrau auch jeden ausgespuckten Essensrest gründlich vom Fußboden entfernt hatte.
Nun war alles sauber.
Sonnleitner würde nie wieder spucken. Der Tod hatte sein gequältes Gesicht verändert, wie es fast immer der Fall war nach dem Dahinscheiden.
Katharina Schulz sorgte seit siebzehn Jahren für Sauberkeit und Sterilität in den zwölf Gästezimmern von Haus Holle. Keime und Schmutz waren ihr größter Feind. Jahrelange Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sich auf den letzten Metern des Lebens – und somit auf den Sterbeprozess – nichts so fatal auswirken konnte wie Bakterien und Viren.
Ungeachtet dessen war Sonnleitner qualvoll gestorben, bei vollem Verstand und nach langem Todeskampf. Eine in Wien lebende Schwester hatte den Aidskranken eine Woche zuvor aus seiner verwahrlosten Wohnung holen und von seinem langjährigen Hausarzt ins Haus Holle verlegen lassen. Obwohl Sonnleitner schon bei seiner Einlieferung ins Hospiz nur 39 Kilo – bei einer Größe von eins achtundachtzig – gewogen hatte, sträubte sich sein ausgemergelter Körper gegen den Übergang in eine hoffentlich bessere Welt.
Bis zur letzten Sekunde zwang er sich, ein Auge offen zu halten. Das wusste die Kollegin aus der Nachtschicht, die Sonnleitner in dessen Sterbestunde die Hand gehalten hatte.
Jeder stirbt, wie er gelebt hat.
So lautete eine der unzähligen Einsichten, die Katharina oft gehört hatte. Und Sonnleitner hatte, so verrieten es die Informationen aus seiner Patientenakte, ausschweifend gelebt. Alkohol, Drogen und Sex hatten ihn durch sein Leben begleitet – bis zu seinem frühen Tod, der auf den Ausbruch von Aids zurückzuführen war. Oder besser gesagt: auf eine böse Lungenentzündung, die durch seine Immunschwäche verursacht worden war.
Katharina schalt sich selbst eine Närrin. Als ob ein ausschweifendes Leben, wie es Gustav geführt hatte, am Ende vom Schicksal bestraft werden musste! Sie schob die Plattitüde beiseite, und ersetzte sie durch eine eigene, ehrlichere Einsicht. Ihrer Meinung nach hatte Sonnleitner versucht, wenigstens ein Auge offen zu halten und sich an sein krankes Leben zu klammern, weil er für den Tod nicht bereit gewesen war. Er konnte nicht gehen, weil ihn irgendetwas bedrückte.
Die Hauswirtschafterin wusste, dass Todkranke, die noch offene Rechnungen mit dem Leben hatten, oftmals komplizierter starben.
Du warst einer von ihnen, dachte Katharina mitleidig. Vielleicht hatte Gustav auf den letzten Besuch eines ehemaligen Liebhabers am Sterbebett gewartet. Eines Liebhabers, den er auf dem übermütigen, dekadenten Zenit seines Lebens kaltblütig beiseitegestoßen hatte. Vielleicht auf eine warme Hand oder eine Aussprache. Vielleicht auf eine Versöhnung. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Doch gekommen war niemand.
Bis jetzt.
Unten, in der Eingangshalle, wartete Sonnleitners aus Wien angereiste, herausgeputzte Schwester darauf, dass ihr Katharina die persönliche Habe des Toten übergab – um diese mitsamt der Leiche ihres Bruders verbrennen zu lassen. Es waren wenige Habseligkeiten: ein schäbiges Zigarettenetui, ein Paar braune Hauspantoffeln, ein Paar nussfarbene Straßenschuhe, ein grüner Pullover und Blue Jeans, des Weiteren eine fleckige Jacke, zwei saubere Schlafanzüge und ein schmales Fotoalbum.
Katharina packte alles in einen Karton, trug ihn zur Tür und wandte sich dem Toten ein letztes Mal zu. Dann flüsterte sie: „Ich schicke dir gleich jemanden, der für frische Luft sorgt. Und wünsche dir alles Gute, du lieber Kerl!“
Dann schloss sie die Tür zu Zimmer 6.
Nebenan, in Zimmer 5, hörte Professor Berthold Pellenhorn, dass der dünne Dietmar heftig nach Luft schnappte, als er Gustavs Raum betrat.
Rasch ging der Pfleger am Totenbett vorbei. Er scannte den Raum mit dem Blick eines an Sterbezimmer gewöhnten Profis, der Pfarrern, Imamen, Buddhisten und anderen Geistlichen bereits seit vier Jahren die Eingangstür öffnete oder Menschen im Endstadium aus Märchen– oder Philosophiebüchern vorlas und unzählige Tränen trocknete.
Er blickte den Leichnam an. Friedlich sah er aus, der Gustav. Seliger als zu Lebzeiten.
Seine Augen, die dem Tod so misstrauisch hatten ausweichen wollen, als könnten sie ihm entkommen, waren endlich geschlossen. Kollegen hatten Dietmar erzählt, dass sich der Verstorbene in seiner Todesnacht bis zur letzten Sekunde gezwungen hatte, krampfhaft ein Auge offen zu halten – bis ihn seine Kraft verlassen hatte. Daraufhin hatte er seinen letzten Satz geflüstert: „Muss es denn wirklich schon sein?“ Die Nachtschicht hatte genickt und Gustavs Hand ergriffen. Sie ermunterte ihn, sich zu ergeben, und meistern zu können, was Milliarden von Menschen vor ihm geschafft hatten. Zu sterben.
Sterben. Für Dietmar war Sterben immer noch ein Rätsel. Obwohl er schon lange in Haus Holle arbeitete, und alle Facetten des Sterbens zu kennen glaubte, hatte es ihn zutiefst geschockt, als vor vier Monaten ein Kollege bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Dietmar schloss die Fenster, entzündete Salbeiblüten in einer Räucherschale und atmete den Duft tief ein. Es war ein langjähriges Ritual in Haus Holle, dass ein Sterbezimmer mit geräuchertem Salbei gereinigt wurde. In alle vier Ecken mit guten Gedanken, dachte Dietmar, während er beinahe majestätisch durch das Zimmer schritt. Der rauchige Salbei vertrieb den Geruch von Gustavs letztem Kampf. Riecht wie eine dicke Tüte, schoss es Dietmar durch den Kopf. Und plötzlich freute er sich auf den Feierabend.
Dann stellte der Pfleger eine Schale mit frisch gemahlenen Kaffeebohnen auf. Dass war die wirksamste Waffe gegen den Geruch offener Tumore. Dietmar ahnte, dass das dem nächsten Gast in Zimmer 6, einer älteren Dame, gefallen würde.
Mit einem Mal spürte er, dass er nicht mehr allein war. Dietmar wandte den Kopf, schaute zur Tür und erblickte Professor Berthold Pellenhorn. Seine Ehefrau hatte den beleibten Mann in seinem Rollstuhl bis vor das Zimmer des Toten geschoben. Er sah aus wie ein Buddha – mit fröhlich funkelnden Augen.
Sonnleitners Ex-Nachbar grinste schelmisch. Er öffnete den Mund, und aus seiner Kehle kamen drei Worte: „Kooomm jeeeman Neuuäs?“
„Ja“, entgegnete Dietmar. „Heute zieht eine neue Bewohnerin ein, Professor Pellenhorn. In wenigen Stunden haben Sie eine neue Nachbarin!“
Berthold Pellenhorn wiegte den Kopf hin und her. „Unnn Gutaaav?“
„Herr Sonnleitner wird gleich abgeholt“, antwortete Dietmar mit einem Seitenblick auf den Verstorbenen.
„Gutaaaav waaa nuu kuuuzzz hiiie.“ Für Professor Pellenhorn war das Aussprechen jeder Silbe ein Kampf gegen die eigene Zunge.
„Ja, Gustav hat leider nur sieben Tage bei uns gewohnt“, entgegnete Dietmar dem ALS-Kranken, dessen Zustand sich anfangs lediglich von Woche zu Woche, mittlerweile jedoch von Tag zu Tag verschlechterte. Wie der verstorbene Sonnleitner wartete auch Professor Pellenhorn auf den Tod.
ALS, diese aus drei Buchstaben bestehende Abkürzung für Amyotrophe Lateralsklerose, war eine grausame Krankheit, die den meisten daran Erkrankten jeden Lebensmut raubte.
Nicht jedoch Berthold Pellenhorn. Seit der Ex-Abgeordnete des Innenministeriums dem Ende entgegensteuerte, lebte er förmlich auf und setzte dem Sterben nur eins entgegen: unübertreffbaren Optimismus. Dabei wusste Professor Pellenhorn genau, dass der Tod bereits auf dem Weg war und ihn sehr bald einholen würde in seinem Rollstuhl, den seine gelähmten Hände längst nicht mehr zu lenken vermochten. Seine Muskeln verschwanden langsam, und zwischen seinem Hals und seinen Nackenwirbeln verklebten alle Nerven. Tränen jedoch flossen selten aus Pellenhorns Augen, und wenn doch, dann waren es Tränen der Freude. Sein unerschöpflicher Humor hatte es seiner Frau Barbara noch leichter gemacht, ihren Gatten in der schwierigsten Zeit ihrer langjährigen Ehe aus tiefstem Herzen zu lieben und ihm jeden Dienst zu erweisen – auch jetzt, da er seine Gedanken nur noch stoßweise äußern konnte.
Ja, Professor Pellenhorn war für alle, deren Lebensweg er gestreift hatte oder die ihn neu kennengelernt hatten, eine Quelle unendlicher Freude. Sogar am Ende seines Lebens und für die anderen Todkranken, die von den Mitarbeitern Gäste genannt wurden.
„Aaaallees Guuuute, Gutaaav“, kam es jetzt aus Bertholds Kehle.
Ohne Luft zu holen, und zu Dietmars Überraschung folgte im gleichen Atemzug die neugierige Frage: „Uuuun weee zzzieht jeeezz aaaain“?
„Ich würde es Ihnen gerne sagen“, antwortete der Krankenpfleger. „Doch den Namen Ihrer neuen Mitbewohnerin kenne ich selbst nicht. Es ist eine ältere Dame – Missie, Milli, oder so ähnlich …“
Minnie holte tief Luft, bevor sie Zimmer 6 zum ersten Mal betrat.
Ein Hauch von Dietmars Salbeiblättern, vermischt mit dem Duft frischen Kaffees, drang ihr in die Nase. Wie gut es hier roch! Die erste Anspannung fiel von ihr ab, und ihre Mundwinkel lockerten sich. Beides geschah nicht grundlos. Denn mitten in jenem Zimmer, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, erblickte die alte Dame einen alten Vertrauten – ihren heimischen Fernsehsessel.
Sie hatte ein neues Zuhause! Nie wieder würde sie eine Klinik von innen sehen! Das war vorbei! Doch bereits der nächste Gedanke löste einen Schock bei ihr aus: Mein neues Heim ist die absolute Endstation. In diesem Bett werde ich sterben. Danach lande ich im Sarg. Wenn ich erst mal in dem drin bin, geht es ab in die Kapelle. Bei meiner Trauerfeier werden die Lebenden ein Ave Maria hören, während ich – getrennt von ihnen – neben dem Alter aufgebahrt sein werde. Nach meiner Beerdigung flüchten alle ins Warme zurück – zu Kaffee und Kuchen, und fort vor dem Dezemberfrost.
Zugegeben, heute war erst der 1. November, doch dass sie noch bis Weihnachten oder sogar länger leben würde, davon war Minnie fest überzeugt. Auch und obwohl sie in einem Sterbehospiz gelandet war.
Sie fuhr sich über die weißen Locken und versuchte den Schock abzuschütteln. Sie würde hier nicht sterben. Schließlich stand hier ihr Fernsehsessel, schließlich hingen hier ihre Vorhänge, schließlich atmete sie – und schließlich wollte sie weiterleben.
Kämpferisch ballte die alte Dame ihre Hand zu einer Faust und erinnerte sich an die Worte ihres Hausarztes Dr. Vier: Haus Holle war nicht die Endstation, sondern die vorletzte Etappe. Ein Haus zum Erholen, ein Haus zum Aufatmen, ein Haus zum Leben, bevor der Tod kam.
Eins jedoch wusste selbst Dr. Vier nicht. Dieses Eine flüsterte ihr eine hoffnungsvolle, innere Stimme zu. Sie war beständig und treu und sie sagte: Du wirst vielleicht wieder gesund, Minnie. Du kannst es schaffen. Du hast eine Chance!
Sie litt unter Vaginalkrebs im Endstadium. Der Krebs hatte bereits gestreut. Außerdem gab es Metastasen in der Lunge, der Blase und wo auch immer.
Sei’s drum.
„Sie werden staunen, was in Haus Holle möglich ist“, hatte Dr. Vier ihr gesagt. „Nutzen Sie die Chance, bitte.“
So weit, so schlecht: Sie war hier, weil die Ärzte sie aufgegeben hatten. Ob sie sich aber selbst aufgeben würde – das stand auf einem anderen Blatt. Ins Hospiz gegangen zu sein war eine Sache für sich. Aber hier auch sterben zu müssen? Minnie konnte sich das nicht vorstellen. Schließlich fühlte sie sich gut. „Den Zweiten Weltkrieg habe ich schließlich auch überlebt“, sprach sie sich selbst Mut zu, „und das war beileibe Glück gewesen.“
Minnie stellte ihre Handtasche auf das weiß bezogene Bett und legte dann ihr uraltes Stofftier auf das Kopfkissen. Jumbo hatte sie durch alle Höhen und Tiefen eines langen, erfüllten Lebens begleitet. Er sah aus wie immer. Der graue Elefant lag halb auf der Seite, den Rüssel um seinen Hals gerollt, die Augen geschlossen, und sanft schlafend. Ihm war es immer egal gewesen, wohin er mit Minnie reiste.
Warum auch nicht?
Sie sah sich in Zimmer 6 um und bewunderte die Annehmlichkeiten: ein Telefon mit einer persönlichen Durchwahl, ein mit einem Spiegel verzierten Holzschrank, ein moderner LCD-Flachbildfernseher – und sogar eine Musikanlage. Doch das war längst nicht alles. Auf dem einzigen Tisch im Zimmer wartete ein selbstgebackener Willkommenskuchen auf sie. Er hatte die Form eines Teddys mit ausgestreckten Schokoladenarmen. Außerdem gab es ein riesengroßes Sprossenfenster vor einem Mini-Balkon, von dem aus man auf eine einladende Holzbank unter einer kahle Kastanie blickte – sowie auf die Rollstuhlrampe vor Haus Holle.
Gerade wurde ein Buddha in einer geringelten Winterjacke Richtung Eingangstür geschoben. Minnie erkannte auf den ersten Blick, dass es derselbe gelähmte Herr war, der sie nach dem Aussteigen aus dem Taxi mit einem kehligen „Guuuteeen Taaag!“ begrüßt hatte. Ein Buddha, den man mögen musste. Ein Buddha, dessen geschwollene Füße in Gummipantoffeln steckten.
Minnie blickte an sich selbst herunter. Sie trug das gleiche Schuhwerk wie der Gelähmte im Rollstuhl. „Da habe ich ja schon einen Bruder im Geiste getroffen“, murmelte sie leise und schaute in den Spiegel. Eine betagte Frau schaute sie an, ein Wesen, so knittrig im Gesicht wie die uralte Morla aus Michael Endes Kinderbuch Die unendliche Geschichte. Eine wirklich alte Frau mit schütterem Haar – und Locken, die von unerbittlichen Geheimratsecken nach hinten gezogen wurden.
„Weiß“, flüsterte sie, „alles an mir ist weiß wie die Wolken über dem Mount Everest.“ Tränen liefen aus ihren blassblauen Augen. Nein, es war nicht leicht, hierherzukommen. Sie war völlig auf sich allein gestellt. Jumbo war ihr keine Hilfe. Dass sie hier gelandet war, war ein böser Albtraum. Es konnte nicht wahr sein. Nicht wahrrrr, nicht wahrrrrrrrr, nicht waaaahrrrrrrrr …
Ihre erst im letzten Jahr knochig gewordene Hand griff nach der schimmernden Perlenkette, die ihre glänzende Satinbluse zierte, und hielt sich kurz daran fest, während ihre Augen die alte weiße Frau im Spiegel unter einem wütenden Tränenschleier musterten.
Alles in ihr zog sich zusammen. Sie legte die Stirn in Falten.
Doch, es war wahr: Sie war hier – in einem Sterbehospiz!
Fassungslos betrachtete sie die alte Kreatur im Spiegel, die sie selbst war. „Du sollst hier sterben!“ Das Echo des Gedankens hallte durch ihren Kopf, und die Zeit schien stillzustehen.
Bis sie etwas erblickte, was ihr neue Hoffnung schenkte: Der Farbton ihrer Hose war nicht weiß. „Immerhin fast beige“, murmelte Minnie vor sich hin und schüttelte den Wahnsinn ab. Nun denn, sie musste den Gedanken akzeptieren, in Haus Holle gelandet zu sein. Vorerst. Mal sehen, wie das Leben hier war.
Minnie roch den Duft frischen Kaffees. Ob jemand kommen würde, um sie abzuholen?